Gottes Gnade verstehen
Auf das gute Erdreich gesät aber ist es bei dem, welcher das Wort hört und versteht; der bringt dann auch Frucht... (Matth. 13,23)
Mein Bibelverständnis
"Die Bibel ist Gottes Wort." Diese Aussage würde ich bejahen - aber dieser Satz wird von verschiedenen Christen ganz verschieden interpretiert. Ich kann die entsprechende Diskussion an dieser Stelle auch nicht angemessen behandeln. Stattdessen möchte ich im Folgenden zum Nachdenken anregen.
Existiert Gott?
Zuerst einmal muss die Frage nach der Existenz Gottes geklärt werden. Hier stimme ich der Argumentation des Apostels Paulus zu: "Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar, denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn sein unsichtbares Wesen - das ist seine ewige Kraft und Gottheit - wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es wahrnimmt, ersehen an seinen Werken…" (Röm. 1,19-20) Die Betrachtung des Universums, der Sterne, der Planeten, der Natur, der Pflanzen, Tiere und Menschen, all das impliziert die Existenz eines Schöpfers.
Als Argument gegen die Existenz Gottes führen Atheisten häufig die Theodizee Frage ins Feld. Dabei wird behauptet, dass logisch betrachtet nicht alle der folgenden drei Aussagen gleichzeitig wahr sein können ("inkonsistentes Dreieck"):
1) Gott ist allmächtig.
2) Gott ist Liebe.
3) Es existiert Böses.
Ein interessanter Ansatz, die Frage nach dem Bösen und Leiden in der Welt zu beantworten, findet man in Thomas Talbotts Buch "The Inescapable Love of God". Ich möchte diesen eher schwierigen philosophischen Ansatz hier nicht näher erläutern, sondern nur auf den Denkfehler im obigen inkonsistenten Dreieck hinweisen. Das Problem liegt im Begriff "allmächtig". Es ist nämlich sehr plausibel, dass auch einem allmächtigen Wesen gewisse Grenzen gesetzt sind. Das mag auf den ersten Blick ungeheuerlich klingen. Aber es ist ganz einfach: Auch ein allmächtiges Wesen kann zum Beispiel keine Widersprüche wahr machen. Gott kann kein rundes Quadrat erschaffen. Und Gott kann auch kein Wesen erschaffen, das in echter Freiheit eigene Entscheidungen trifft, und gleichzeitig alle Entscheidungen dieses Wesens vorherbestimmen.
Sind die biblischen Texte glaubwürdig? Sind sie wörtlich wahr?
Als zweites muss man sich der Frage widmen, ob die biblischen Erzählungen, insbesondere im Zusammenhang mit der Entstehung des Lebens, überhaupt stimmen können. Der Verweis auf den Konsens der Wissenschaft bezüglich der Evolutionslehre macht es sich hier viel zu einfach. Tatsächlich ist es nämlich schon seit Jahrzehnten mathematisch erwiesen, dass die Evolutionstheorie als Erklärung des Lebens und der Arten nicht funktionieren kann (siehe hier) - aber dieses Wissen scheint bei den meisten Wissenschaftlern noch nicht angekommen zu sein... Nach meinem jetzigen Wissensstand ist eine Weltanschauung, welche eine Schöpfung im Sinne der biblischen Erzählung postuliert, nicht grundsätzlich als unwissenschaftlich abzulehnen.
Der zentralste Punkt für den christlichen Glauben aber ist der Bericht von der Auferweckung Jesu Christi von den Toten. Die historische Wissenschaft kann zwar nicht eindeutig beweisen, dass diese Auferweckung stattgefunden hat, sie steht aber auch in keinem Widerspruch dazu. Im Gegenteil: Ich kenne kein überzeugendes Erklärungsmodell, welches die Ereignisse nach Pfingsten plausibel erklären könnte, wenn Jesus nicht von den Toten auferstanden wäre. Die entsprechenden Argumente werden auch von Fachleuten anerkannt. (Ich möchte hier einen Vortrag von Siegfried Zimmer sehr empfehlen!)
Es spricht in meinen Augen nun nichts zwingendes dagegen, dass man die biblischen Berichte grundsätzlich als glaubwürdig betrachtet. Aber wie genau sind die Texte? Früher war ich der Überzeugung, dass die Bibel gewissermassen bis auf den kleinsten Buchstaben irrtumsfrei sei. Deshalb bin ich sehr erschrocken, als ich vor Jahren die Diskrepanz zwischen Matth. 9,18 und Mark. 5,23 (Auferweckung von Jairus' Tochter) entdeckte. In meinen Augen gibt es keine Möglichkeit, die beiden Erzählungsvarianten zu harmonisieren. Streng logisch ist für mich deshalb die absolute wörtliche Irrtumsfreiheit der Bibel keine sinnvolle Sichtweise. Wenn man, um beim Beispiel von Jairus zu bleiben, aber davon ausgeht, dass zwei Augenzeugen oder Geschichtsschreiber ehrlich von einem Ereignis berichten, welches tatsächlich stattgefunden hat, dann würde man solche kleinen Varianten nicht nur tolerieren, sondern durchaus auch erwarten. Kleine Widersprüche legen nahe, dass der Text nicht harmonisiert wurde, und erhöhen damit sogar noch die Glaubwürdigkeit des Berichts.
Weitere Details und Links zur Glaubwürdigkeit der Bibel...
Die Bibel als Glaubensgrundlage?
An diesem Punkt stellt sich nun die Frage, inwiefern man der Bibel als Glaubensgrundlage vertrauen kann, wenn man einmal die Möglichkeit zulässt, dass es in der Bibel Fehler und Widersprüche gibt. Hier möchte ich folgendes festhalten: Jünger Jesu heissen "Christen", nicht "Biblisten". Wir glauben an Gott, und wir glauben an Jesus, aber wir glauben nicht AN die Bibel, denn die Bibel ist nicht Gott, und auch nicht göttlich. Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart, also in einer Person, nicht in einem Buch. (In diesem Zusammenhang möchte ich einen Vortrag von Siegfried Zimmer empfehlen.)
Jesus sagt in Joh. 16,13: "Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten." Am Pfingsttag kam der Geist auf die Jünger Jesu (Apg. 2,1-4), nicht der heutige protestantische biblische Kanon von 66 Büchern. Jesus Christus ist tatsächlich von den Toten auferstanden, und sagte: "Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende." (Matth. 28,20) Und: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben." (Joh. 14,6) Wir dürfen die Person Jesu selber kennen, Er hat uns nicht mit einem Buch in der Hand allein gelassen.
Will ich damit sagen, dass die Bibel sozusagen überflüssig ist? Absolut nicht! Ich kann die Bibel nicht genug wertschätzen, schliesslich ist sie das beste schriftliche Zeugnis, welches wir vom Leben Jesu, seinen Worten und der Verkündigung der Apostel haben. Und auch das alte Testament ist unersetzlich wichtig, um die Inhalte des neuen Testaments richtig einordnen zu können. Und weil die Bibel das schriftliche Zeugnis über Gottes Reden und Wirken enthält, kann man sie auch kurz "Gottes Wort" nennen. Durch die Bibel kann Gott zu uns sprechen.
Was hat es nun mit der Autorität der Bibel in Glaubensfragen auf sich? Wir müssen grundsätzlich vier Autoritätsstufen unterscheiden: Die oberste Autorität hat ohne Zweifel der allmächtige Gott. Unter Ihm steht Jesus Christus, welchen Gott zum Herrn gemacht hat. Unter Jesus Christus steht die Heilige Schrift. Ganz unten schliesslich finden wir alle Gläubigen in der Gemeinde Jesu. Dass die Autorität der Heiligen Schrift in Fragen des Glaubens über dem christlichen Lehramt steht, garantiert die Glaubens- und Gewissensfreiheit eines jeden Christen. Genau so wie die Verfassung eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats die Grund- und Freiheitsrechte eines jeden Einzelnen garantiert, so "beschützt" uns die Bibel vor jedem Gewissenszwang durch menschliche Dogmen und Glaubensbekenntnisse.
Die Autorität der Heiligen Schrift in Fragen des Glaubens hängt nun nicht einfach in der Luft. Vielmehr ergibt sie sich aus der Autorität Jesu und, aufgrund seiner Berufung, aus der Autorität der Apostel. Wenn eine Frage des Glaubens geklärt werden muss, dann hat ein biblischer Text deshalb das grösste Gewicht, weil wir so dem Original des Zeugnisses Jesu und der Apostel am nächsten kommen. Es geht also nicht darum, dass die Bibel sozusagen schon von Ewigkeit her im Himmel existiert hätte, sondern man muss sie mit der gleichen Nüchternheit handhaben, wie dies bei anderen historischen Texten selbstverständlich ist. Wie so häufig wohnt Gottes Vollkommenheit inmitten der menschlichen Unvollkommenheit.
Weitere Herausforderungen
Beschränken sich die Widersprüche in der Bibel auf unwichtige Nebensächlichkeiten? Ich meine nicht. Schauen wir uns den folgenden Text an: 1. Sam. 15,2-3: "So spricht der HERR Zebaoth: … So zieh nun hin und schlag Amalek. Und vollstreckt den Bann an allem, was es hat, verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, …" Ich wundere mich inzwischen sehr darüber, wie weit christliche Apologeten gehen, um zu rechtfertigen, dass diese Rede tatsächlich eine direkte Anordnung Gottes war. Wer kann das mit ehrlichem Gewissen behaupten? Die gleichen Apologeten würden bejahen, dass Jesus Christus Gott offenbart hat. Kann man sich vorstellen, dass Jesus ein Schwert in die Hand genommen hätte, um "Mann und Frau, Kinder und Säuglinge" zu töten? Ein Genozid ist ein Genozid, auch wenn er in der Bibel von Gott befohlen wird. Und ich meine, dass sich die Christenheit unglaubwürdig macht, wenn sie den Tatbestand des Genozids nicht grundsätzlich verurteilt. Man muss hier wirklich nicht Anwalt und Verteidiger Gottes spielen.
Es ist richtig, Jesus hat sich auf die Heilige Schrift (unser heutiges altes Testament) berufen, weil diese Zeugnis von ihm ablegt (Joh. 5,39; Luk. 24,27). Aber lesen wir doch auch die folgenden Stellen: "Da aber das seine Jünger Jakobus und Johannes sahen, sprachen sie: Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und verzehre sie, wie Elia tat. Jesus aber wandte sich und bedrohte sie und sprach: Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten." (Luk. 9,54-56) Und: "Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia, die redeten mit ihm… Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören! … Da sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand denn Jesum allein." (Matth. 17,3-8) Es ist glasklar, dass hier das Gesetz und die Propheten (Mose und Elia) in einem Gegensatz zu Jesus gesehen werden. Und Gott sagt, dass wir auf Jesus hören sollen, nicht mehr auf Mose und Elia.
Wir sehen also, dass die Bibel sich selber kritisiert! Und diese Kritik ist nicht darauf beschränkt, dass Jesus den alten Bund mit einem neuen Bund ersetzt hat. Auch schon im alten Testament findet man innerbiblische Kritik, z.B. beim Thema, ob die Sünden der Väter ihren Kindern angerechnet werden (2. Mose 34,7 vs. Hes. 18,20).
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass es auf viele Fragen und Herausforderungen leider keine ganz einfachen Antworten gibt. Aber wir dürfen der Hauptbotschaft des neuen Testaments, nämlich der Botschaft von der Liebe Gottes und von der Erlösung durch Jesus Christus für alle Menschen, unbedingtes Vertrauen schenken. Und mit diesem Vertrauen auf Gott, welcher für und nicht gegen uns ist, empfangen wir den Geist Jesu, welcher uns in aller Wahrheit leitet.
Bibelauslegung durch "Offenbarung"?
Zum Abschluss möchte ich noch etwas zum Thema Bibelauslegung sagen. Für die meisten Christen ist folgendes Grundkonzept der Bibelauslegung (Exegese) selbstverständlich: Man fragt als erstes nach der Bedeutung eines Textes aus der Sicht eines damaligen Hörers oder Lesers. Ich will nicht behaupten, dass gründliche Bibelexegese eine einfache Aufgabe ist. Es gehört dazu eine gute Kenntnis der alten Sprachen und des damaligen kulturellen und historischen Kontexts. Nun sind aber nicht alle Texte der Bibel gleich schwer zugänglich. Ich bin überzeugt, dass die wichtigsten Inhalte des Evangeliums auch von Kindern mühelos verstanden werden können. In diesem Zusammenhang ergibt sich für mich folgender Grundsatz: Die Bedeutung einer biblischen Aussage kann nach dem einfachen und konventionellen Textverständnis erschlossen werden. Gott ist nicht ein Gott der Unklarheit, sondern der Klarheit.
Nun existiert in der Christenheit aber auch ein anderes Konzept der Bibelauslegung, welches in verschieden starkem Mass betont wird, nämlich: Die Bedeutung von Bibeltexten muss durch übernatürliches göttliches Wirken "offenbart" werden. Nun bezweifle ich zwar nicht, dass wir die Hilfe des Heiligen Geistes brauchen, um die biblischen Inhalte recht zu verstehen. Aber das hat vielmehr damit zu tun, dass das menschliche Denken durch "confirmation bias" und Unehrlichkeit verdunkelt ist, und nicht damit, dass Gott biblische Texte bewusst unklar schreiben liess, damit nur die Auserwählten den tatsächlichen Sinn verstehen können. Ein solcher Gott könnte nicht ehrlich und aufrichtig genannt werden. Ich meine also, etwas zugespitzt formuliert: Die Bibel IST die Offenbarung, sie muss nicht offenbart werden.
An dieser Stelle möchte ich ein prominentes Beispiel erwähnen, mit welchem Bibelauslegung anhand übernatürlicher "Offenbarung" gerechtfertigt wird. In Luk. 4,17-21 liest Jesus einen Abschnitt aus dem Propheten Jesaja, nämlich 61,1-2. Dort wird sowohl das Gnadenjahr des HERRN als auch einen Tag der Rache angekündigt. Jesus aber liest nur die erste Hälfte von Vers 2 und lässt den "Tag der Rache" weg. Weil man implizit annimmt, dass der Tag der Rache erst bei der Wiederkunft Jesu stattfinden wird, dient dieses Beispiel als Beleg dafür, dass prophetische Aussagen zeitlich weit auseinander liegende Ereignisse in einem einzigen Satz enthalten können, und man nur durch Offenbarung wissen könne, wo der entsprechende Satz "geteilt" werde muss (gemäss einer irrtümlichen Auslegung von 2. Tim. 2,15). Aber das Fundament dieser Argumentation hält nicht, denn die Annahme, der Tag der Rache liege 2000 Jahre vom Beginn des Gnadenjahres entfernt, müsste ja erst noch bewiesen werden. Viel plausibler ist, dass Jesaja mit dem Tag der Rache die Zerstörung des Tempels 70 n.Chr. gemeint hat, und diese steht in direktem Zusammenhang mit Jesu erstem Kommen. Mehr zu diesem Thema findet man im Abschnitt Endzeit.
In der Endzeit-Botschaft von William Branham wird das Konzept der übernatürlichen Offenbarung so weit getrieben, dass klarste Aussagen wie z.B. "Adam erkannte seine Frau Eva, und sie empfing und gebar den Kain" (1. Mose 4,1) nicht bedeuten, dass Adam der Vater Kains war. Stattdessen könne man durch "Offenbarung" (z.B. von 1. Joh. 3,12) erkennen, dass Kain beim Sündenfall vom männlichen "Schlang" gezeugt wurde (mehr dazu hier). Wahrscheinlich schütteln die meisten Christen über eine solche Bibelauslegung den Kopf. Aber wie sieht es mit dem in der Christenheit mehrheitlich anerkannten Dogma aus, dass Jesus Gott selber sei? Gemäss der Bibel ist er nämlich sein Sohn. Wieso ist es so schwierig, zu sehen, dass sich die beiden Aussagen "Jesus ist Gott" und "Jesus ist Gottes Sohn" grundsätzlich widersprechen, insbesondere im Kontext eines Glaubens an einen einzigen Gott? Mehr dazu im Abschnitt Gottheit.