Gottes Gnade verstehen
Auf das gute Erdreich gesät aber ist es bei dem, welcher das Wort hört und versteht; der bringt dann auch Frucht... (Matth. 13,23)
Johannes 8,58
"Ehe denn Abraham ward, bin ich."
Die folgenden Ausführungen sind zum grössten Teil einem Podcast von Bill Schlegel entnommen.
Gemäss der trinitarischen Auslegung ist die Formulierung "bin ich" in Joh. 8,58 ein Hinweis auf 2. Mose 3,14:
"Da sprach Gott zu Mose: 'Ich bin, der ich bin.' "
Folgerichtig war es die zweite Person der Trinität, Gott der Sohn, welcher im brennenden Dornbusch zu Mose sprach. Es kann nicht der Vater oder die gesamte Trinität gewesen sein, denn die Worte "ich bin" beinhalten das singuläre persönliche Pronomen "ich", also kann in 2. Mose 3,14 nur eine Person sprechen, und im Vergleich mit Joh. 8,58 muss es der Sohn sein. Soweit die trinitarische Argumentation.
Zuerst einmal ist es seltsam, dass Jesus so kryptisch sprechen sollte. Er erwähnt nichts vom brennenden Dornbusch, von Mose, und auch nicht das Wort "Gott" oder "HERR". In Vers 40 sagt er noch: "Nun aber sucht ihr mich zu töten, einen solchen Menschen, der ich euch die Wahrheit gesagt habe, die ich von Gott gehört habe." Und dann sollte er in Vers 58 plötzlich behaupten, der allmächtige Gott selber zu sein, indem er eine Art Code-Sprache benützt? Und das, obwohl er in Vers 54 gesagt hat: "So ich mich selber ehre, so ist meine Ehre nichts"? Das ist höchst unwahrscheinlich.
Deshalb ist die entscheidende Frage, ob eine eindeutige Verbindung zwischen dem "bin ich" aus Joh. 8,58 und dem "ich bin, der ich bin" aus 2. Mose 3,14 besteht. Die Antwort ist nein: Weder im Hebräischen noch im Griechischen kann eine solche Verbindung eindeutig bewiesen werden.
Auf Hebräisch sagt Gott in 2. Mose 3,14: "אהיה אשר אהיה", was wörtlich "ich werde sein, der ich sein werde" bedeutet. Genau so hat es auch Luther übersetzt. Das Wort "אהיה" bedeutet nicht "ich bin".
Auf Griechisch (d.h. in der griechischen Übersetzung des alten Testaments, der Septuaginta) sagt Gott in 2. Mose 3,14: "ἐγώ εἰμι ὁ ὤν", das bedeutet "ich bin der Lebendige". Der Name Gottes ist hier also "der Lebendige" (ὁ ὤν) und nicht "ich bin" (ἐγώ εἰμι, ego eimi). Die Worte "ἐγώ εἰμι", also "ich bin", sind kein göttlicher Titel. Genau die gleichen Worte benützt der ehemals Blinde im folgenden Kapitel, Joh. 9,9: "Er selbst aber sprach: Ich bin's."
Ein weiteres Problem ergibt sich, wenn man 2. Mose 3,15 mit Apg. 3,13 vergleicht:
"Und Gott sprach weiter zu Mose: ... Der HERR, eurer Väter Gott, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt." (2. Mose 3,15)
"Der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs, der Gott unserer Väter, hat seinen Knecht Jesus verklärt..." (Apg. 3,13)
In beiden Fällen ist eindeutig vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs die Rede. Wenn es gemäss obiger trinitarischer Auslegung der präexistente Jesus ist, der in 2. Mose 3,15 spricht, dann müsste man aus Apg. 3,13 schliessen, dass Jesus sein eigener Knecht ist.
Was also hat Jesus wirklich gemeint, als er sagte: "Ehe denn Abraham ward, bin ich"? Zuerst einmal müssen wir festhalten, dass das griechische Wort "genesthai", welches hier mit "ward" übersetzt wird, grammatikalisch keine Zukunftsform verlangt. Es erscheint in der gleichen Form siebenmal im Johannesevangelium, und bedeutet jedes Mal, dass etwas Zukünftiges werden wird. Zum Beispiel finden wir in Joh. 14,29 die gleiche grammatikalische Struktur: "Und nun habe ich es euch gesagt, ehe denn es geschieht..."
Im Lichte dieser Überlegungen wäre eine bessere Übersetzung von Joh. 8,58 wahrscheinlich folgende: "Ehe Abraham sein wird..." Das würde die Interpretation ermöglichen, dass Jesus von der Auferstehung spricht. Jesus ist der Erstgeborene aus den Toten, und in diesem Sinn natürlich vor Abraham. Dieser ist immer noch tot im Grab, aber Jesus ist von den Toten auferstanden und sitzt jetzt zur Rechten Gottes.
Jesus sagt in Joh. 8,58 nur "ich bin", aber die Frage muss natürlich lauten, "ich bin ... was"? Worauf bezieht sich das "ich bin" tatsächlich? Das können wir nur aus dem direkten Kontext herauslesen. Die ganze Rede Jesu beginnt im Vers 12: "Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt..." Man muss davon ausgehen, dass sich Jesus auch in den Versen 24 und 28 darauf bezieht, wenn er sagt:
"... denn so ihr nicht glaubet, dass ich es sei..." (Vers 24)
"... dann werdet ihr erkennen, dass ich es sei..." (Vers 28)
Das nachfolgende Kapitel 9, welches fast sofort nach Joh. 8,58 beginnt, beweist dann auch Jesu Aussage, dass er das Licht der Welt sei. Es wird nämlich ausführlich über die Heilung eines blind geborenen Menschen berichtet.
Eine letzte Bemerkung. In Vers 56 steht:
"Abraham, euer Vater, ward froh, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich." (Joh. 8,56)
Was ist damit gemeint? Ich meine, dass der Tag Jesu sich nicht auf die Zeit Abrahams bezog, sondern eben auf den Tag Jesu! Und dann sind die Worte "und er sah ihn" prophetisch zu verstehen: Abraham sah Jesu Tag als Prophet voraus.
Weiter zu Joh. 10,30+33.